Stresserfahrungen über Generationen epigenetisch vererbt
Veröffentlicht: 19.08.10
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Stresserfahrungen über Generationen epigenetisch vererbt
Psychische Leiden, deren Ursachen in schwerem chronischem Stress in der Kindheit liegen, werden von Generation zu Generation vererbt, und zwar auf epigenetischem Weg. Dies konnten Forscher der Universität Zürich und der ETH Zürich zeigen.
Peter Rüegg
Programmierte psychische Leiden? Schwerer chronischer Stress und Traumata in der Kindheit führen an bestimmten Genen zu epigenetischen Veränderungen, die über mehrere Generationen weitergegeben werden. (Bild: flickr.com) (Grossbild)
Chronischer schwerer Stress oder traumatische Erlebnisse während der Kindheit können verschiedene psychische Spätfolgen hervorrufen, unter anderem Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen. Eine Studie von einem Team unter Leitung der Neurowissenschaftlerin Isabelle Mansuy demonstriert nun an Mäusen, dass solche Spätfolgen auch nachkommende Generationen betreffen können. Mansuy ist Doppelprofessorin an der Universität und der ETH Zürich.
Die Forscher weisen nach, dass negative Umwelteinflüsse in einem frühen Lebensabschnitt das Verhalten eines Individuums über dessen ganze Lebensspanne entsprechend verändern und dass dieses veränderte Verhalten auch an seine Nachkommen bis hin zur dritten Folge-Generation weitergegeben wird.
Stress im Kindesalter, Probleme im Alter
Für ihre Studie arbeiteten die Wissenschaftler mit Mäusen. Jungtiere wurden nach der Geburt während 14 Tagen wiederholt und zu nicht vorhersehbaren Zeitpunkten von ihrem Muttertier getrennt, das zusätzlich während der Trennung gestresst wurde. Dieses Vorgehen löst bei den Jungtieren starken Stress aus und wird als Tiermodell verwendet, um die Vernachlässigung von Kindern und traumatische Kindheitserlebnisse nachzuahmen. Die jungen Mäuse reagierten auf diese Trennung so stark, dass sie im Erwachsenenalter depressiv wurden, ihre Impulsivität nicht im Griff hatten und unter bestimmten Umständen soziale Probleme zeigten.
Insbesondere konnten diese Tiere mit neuen oder widrigen Situationen nicht angemessen umgehen. So gaben sie zum Beispiel ihre natürliche Vorsicht auf, wenn sie neues Terrain erkundeten. Zudem reagierten sie unter widrigen Umständen apathisch oder kämpften nicht um ihr Leben. Mäuse, die unter natürlichen Bedingungen aufwuchsen, wehrten sich hingegen in unangenehmen Situationen, und sie erkundeten neue Lebensbedingungen schrittweise und vorsichtig, gepaart mit einer natürlichen Neugier.
Überdies wurden die traumatisierten Mäuse ihre Verhaltensweisen ihr Leben lang nicht mehr los, und sie «vererbten» ihre Verhaltensstörungen auch ihren Nachkommen. Die Forscher konnten gar nachweisen, dass diese Schädigungen bis in die dritte Nachfolge-Generation andauern.
Epigenetik bestimmt Verhalten
Zurückzuführen sind diese Verhaltungsänderungen jedoch nicht auf Mutationen der Erbsubstanz. Der Stress, so zeigen die Forschenden auf, verändert «lediglich» das Methylierungs-Profil bestimmter Gene im Gehirn und in den Spermien männlicher Mäuse. Diese Plastizität, die auf Veränderungen der Chromatinstruktur beruht, wird als die epigenetische Ebene bezeichnet, und DNS-Methylierung ist ein zentraler epigenetischer Mechanismus. «Stress bringt die Methylierungsmaschinerie durcheinander», erklärt Isabelle Mansuy.
An bestimmten Genen wird Methyl, ein kleines Molekül aus einem Kohlenstoff und drei Wasserstoff-Atomen, an einen der vier Bausteine der DNS, das sogenannte Cytosin, angehängt. Dies ändert jedoch an der Abfolge der vier DNS-Bausteine nichts. Die unterschiedliche Methylierung kann aber beispielsweise die Aktivität der betroffenen Gene steuern und damit zahlreiche wichtige Körperfunktionen beeinflussen.
Mehr oder weniger Methylgruppen
Bisher haben die Wissenschaftler bei Mäusen fünf Gene identifiziert, die aufgrund früher Stresserlebnisse von Methylierungen betroffen sind. Nicht alle gefundenen Gene werden jedoch gleich stark verändert. «Es kommt sehr darauf an, wo, wie und in welchem Grad die Methylgruppen angebracht werden», betont Mansuy. An einigen Genen werden vermehrt Methylgruppen angehängt, an anderen wiederum werden sie übermässig entfernt.
Die epigenetische Weitergabe von solchen Verhaltensinformationen wurde schon lange vermutet, aber Mansuys Arbeitsgruppe ist die erste, die dies nun auf molekularer Ebene in mehreren Generationen nachweisen konnte. Sie ist sogar bereits einen Schritt weitergegangen und hat in Kollaboration mit dem Basler Pharmaunternehmen Roche weitere Gene zu Tage gebracht, die epigenetisch gesteuert werden und mit Verhaltensstörungen in Verbindung stehen.
Übertragung auf Menschen möglich
«Die Symptome, welche die gestörten Mäuse zeigten, sind auch bei Borderline-, Depressions- oder Schizophrenie-Patienten sehr prominent vorhanden», sagt Isabelle Mansuy. Die Resultate aus dem Mäuseversuch seien deshalb möglicherweise auf Menschen übertragbar.
Die Forscherin denkt nun daran, die Untersuchung dieses epigenetischen Phänomens auf Menschen auszudehnen. Dazu braucht sie Gewebeproben von Personen und ihren Nachkommen, um mögliche Methylisierungskandidaten unter den Genen herauszufinden. «Ich bin überzeugt, dass wir Methylierungen auch in menschlichem Gewebe finden werden», so die Professorin.
Die Ergebnisse von Isabelle Mansuy und ihrem Forscherteam sind brisant. Die Veröffentlichung war dementsprechend schwierig, weil manche in der Forschungsgemeinschaft zurückhaltend sind, wenn es darum geht, die erbliche Weitergabe von erworbenen epigenetischen Veränderungen zu akzeptieren. Dennoch kann dieses Konzept viele klinische Beobachtungen erklären. Veröffentlicht wurde die Arbeit in der Fachzeitschrift Biological Psychiatry. Isabelle Mansuy betont: «Wir haben uns 100 Prozent abgesichert.» Sie hätten die Versuche viele Mal wiederholt, um ganz sicher zu sein, dass die Beobachtungen konsistent sind. Das Projekt dauerte – mit all den Nachbesserungen und Zusatzaufgaben, die Reviewer gestellt haben – über acht Jahre.
Literaturnachweis
Franklin TB, Russig H, Weiss IC, Gräff J, Linder N, Michalon A, Vizi S, Mansuy IM. Epigenetic Transmission of the Impact of Early Stress Across Generations. Biol. Psychiatry, 2010, July 29 (online).